Liebe Bille, danke, dass wir auf diesem Wege kommunizieren und auch du meine 10 Fragen an… beantwortest!
Wir kennen uns ja nun gefühlt schon eine Ewigkeit – seit dem (mal wieder eine Anspielung in der Begrüßung und auch ganz weit gefasst) „Kommunikations“studium. Wer bist du, was machst du?
Ich bin verheiratet, habe zwei Töchter und einen Hund, lebe seit neun Jahren wieder auf dem Land, bin von Beruf Logopädin und Kommunikationstrainerin (Werbung), halte Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte aller Art und führe Teamberatungen oder auch Fall-Supervisionen durch. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit kindlicher Entwicklung und den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen.
Was bedeuten Gefühle für dich? Oder wenn du diese Frage lieber beantwortest: Was bedeutet das Wort „Gefühl“ für dich? Was verstehst du unter „Gefühlen“?
Gefühle kommen und gehen, Gefühle sind zum FÜHLEN da und nicht zum rational verstehen. Gefühle sind die Sprache, in der unsere Bedürfnisse (= das Fundament unserer Psyche) mit uns sprechen. Gefühle sind also eine Art zu kommunizieren. Gefühle sind ein wichtiger Zugang zu uns selbst und eine Kontaktaufnahme oder Begegnungsform mit der Welt und mit unseren Mitmenschen. Udo Baer hat sehr gute Bücher über Gefühle geschrieben. Sehr wertschätzend, ehrlich und liebevoll. Ich beschäftige mich seit ich Kind bin mit dem Phänomen der Gefühle und finde dieses Feld nach wie vor faszinierend. Als Laien-Schauspielerin entdecke ich ab und an Gefühle von einer ganz neuen Seite.
In der Kommunikation in meiner Familie ist es oft sehr hilfreich, Gefühle zu spiegeln und das heißt für mich in erster Linie, Gefühle zunächst einfach so zu akzeptieren, wie sie gerade sind. Das gibt den Gefühlen Raum, um den Wesenskern zu offenbaren, der im Gefühl verborgen ist. Um diese bestätigende, akzeptierende Art der Kommunikation habe ich zwei Töchter, die beide sehr gut im Kontakt mit sich selbst und mit anderen sein können und ihre Gedanken und Empfindungen sehr ehrlich und auch differenziert äußern können. Das freut mich sehr!
In deinem Buch „Kindliches Stottern“ geht es um Gefühle, Wünsche, Wörter. In welchem Zusammenhang stehen sie?
Der psycholinguistische Begriff für Wörter wäre „Begriff“ oder vielleicht auch „Bedeutungswolke“, die alle Wahrnehmungssinne sowie kognitive Anteile als auch Gedächtnisinhalte und innere Bilder/Assoziationen aktivieren kann.
Gefühle, Wünsche und Begriffe (Wörter) sind psychische Prozesse, die fließend ineinander übergehen und sich gegenseitig beeinflussen. Als Menschen sprechen wir immer IN BEZIEHUNG zu anderen Menschen und wir haben dabei immer eine – oft auch unbewusste – Intention. Die Bezeichnung „Wünsche“ hat für mich die psychologische Bedeutung „Intention“ oder „Absicht“. Das Wort „Wünsche“ ist für Kinder einfach besser zu verstehen.
Warum ist es wichtig, diese in Verbindung zu setzen/zu betrachten?
Alle drei psychischen Phänomene (Gefühle (= Empfindungen), Wünsche (= Absichten/Motiv) und Wörter (= Begriffsbildung, persönlicher Ausdruck) spielen für den Vorgang des Stotterns eine große Rolle und brauchen wertschätzende Beachtung. Beim Sprechen offenbart ein Kind, wie es ihm geht, was es sich von den Menschen in seinem Umfeld wünscht, was es von seinen Bezugspersonen oder Dialogpartnern erwartet oder erhofft, was es braucht, usw. Sprechen ist also ein spannendes, soziales Wagnis und ein Sich-Zeigen in der Öffentlichkeit. Sprechen ist ein Gesehen- und Gehört-Werden mit dem Risiko, das der andere meine Äußerung interpretiert/deutet/aufgreift/erwidert/in einen anderen Bezugsrahmen überträgt. Nur wenn ich die Komplexität des Sprechens und sich-Äußerns erkenne und berücksichtige, kann ich auf Kinder, die stottern, wertschätzend und achtsam eingehen und den Eltern einen guten Umgang mit dem Stottern nahelegen.
Warum ist es wichtig, seinen Bedürfnissen Raum zu schaffen?
Bedürfnisse sind die Ur-Antriebskraft unserer Psyche. In meinen Fortbildungen erläutere ich das an folgendem Beispiel: ein Faultier hat ca. vier oder fünf Bedürfnisse: Ruhe, einen trockenen und sicheren Platz zum Schlafen, Essen und Trinken, Fortpflanzung und Bewegung, vielleicht noch Pflege und Versorgung der Nachkommen. Diese vier oder fünf Bedürfnisse sind die Antriebskraft eines Faultieres. Man kann einem Faultier praktisch nichts beibringen und es kann auch nicht außerhalb seines vorgesehenen Lebensraumes existieren oder sich einer neuen Umgebung anpassen. Wie sieht es da wohl mit der psychischen Antriebskraft eines Menschen aus? Deutlich komplexer! Seit ca. neun Jahren sammle ich die Bedürfnisse von Kindern (und Erwachsenen). Dazu befrage ich meine Teilnehmer in den Fortbildungen und sammle ihre Antworten ein. Das hat mich auf eine Sammlung von über 200 Begriffen für Bedürfnisse gebracht, die ich wiederum in 27 Bereiche unterteilt habe. Daraus ist mein aktuelles Buch „Kindliche Bedürfnisse als Mittelpunkt der Kita-Pädagogik“ und ein dazugehöriges Kartenset sowie ein Poster mit dem „Baum der kindlichen Entwicklung“ entstanden.
Wir müssen begreifen, dass Bedürfnisse der Antrieb für all unser Handeln, Denken und Fühlen ist. Die neurobiologische Forschung und auch die pädagogische Praxis zeigen ganz eindeutig: Lernen ist das Erfüllen von Bedürfnissen. Unsere BEDÜRFNISSE, die sich im Laufe der Evolutionsgeschichte immer mehr differenziert haben, haben dafür gesorgt, dass unser Gehirn so komplex und vielseitig ist, wie wir es heute haben. Die sich verändernden und differenzierenden Bedürfnisse waren der Antrieb für diese Hirn-Entwicklung!
Ich beobachte immer wieder, dass Menschen ein Vorhaben durchführen oder ein Ziel zu erreichen versuchen und dabei überhaupt nicht auf die eigenen Bedürfnisse oder die Bedürfnisse der anderen am Vorhaben beteiligten Personen achten. Solche Vorhaben und Unternehmungen sind fast immer zum Scheitern verurteilt! Es ist ein bisschen ähnlich wie mit der Ressourcenorientierung, die im systemischen Ansatz sehr bekannt ist und intensiv genutzt wird: Ich muss all meine Ziele und Pläne an die vorhandenen Bedürfnisse und Ressourcen anpassen, sonst funktioniert s einfach nicht.
In meinen Fortbildungen verwende ich ein bedürfnisbezogenes Persönlichkeitsmodell (zum Beispiel in Teamtrainings) und das löst immer große Begeisterung unter den Teilnehmern aus, viel Zustimmung und vor allem viel mehr Verständnis füreinander, denn jeder Mensch hat bestimmte Schwerpunkt-Bedürfnisse, die für ihn, seinen Charakter und seine Persönlichkeit besonders wichtig sind. Das zu erkennen bringt viel Klarheit im Team und auch viel Entspannung und Erleichterung, weil alle achtsamer miteinander umgehen können und auch klarer erkennen: wo sind meine Grenzen und wo sind die Grenzen des anderen? Was ist mein Antrieb? Was motiviert andere?
In der Heilpädagogik sind diese Zusammenhänge schon lange bekannt, mir geht es darum, dieses Wissen auf alle pädagogischen Kontexte und gerne auch auf alle sonstigen sozialen Kontexte zu übertragen.
Wie schaffst du deinen eigenen Bedürfnissen Raum?
Täglich! Ich stehe im intensiven inneren Austausch mit meinen Bedürfnissen und behalte auch die Bedürfnisse meiner Familie stets im Blick. Ich habe mir schon vor Jahren angeeignet, stets auf die Bedürfnisse zu achten und von da aus zu planen und zu handeln. Das mache ich auch, wenn ich Fortbildungen konzipiere und wenn ich sie dann durchführe. Es erleichtert das Denken und Handeln ungemein, wenn man sich immer wieder bewusst macht: Was brauchen die Teilnehmer jetzt? Was brauchen meine Kinder? Was brauche ich? Was braucht die ganze Familie? Und das klingt jetzt vielleicht total kompliziert oder anstrengend, ist es aber gar nicht, denn ich habe ja selbst eine Sammlung der Bedürfnisse zusammengetragen, an der ich mich stets orientieren kann. So werden praktisch alle sozialen Situationen verstehbar und nachvollziehbar, wenn man weiß, dass jeder Mensch stets bedürfnisorientiert handelt – bewusst oder unbewusst ganz egal. Ich denke, dass es für die eigene innere Stärke und Resilienz ganz entscheidet ist, dass man sich selbst gut kennt, Bedürfnisse benennen kann, Bedürfnisse rechtzeitig selbst erkennt und dann rechtzeitig und sozial-kompatibel anderen Menschen mitteilt.
Was bedeutet Glück für Dich?
Glück sind für mich die vielen Geschenke des Lebens: mein Mann, meine Kinder, unser Hund, unsere nachbarschaftliche Gemeinschaft in dem Dorf, in dem wir leben. Meine weitere Familie. Ja, vor allem meine Mutter, aber auch mein Vater. Glück sind auch all meine Nichten und Neffen für mich. Es ist so eine große Freude, sie heranwachsen zu sehen.
Bei welcher Beschäftigung vergisst Du die Zeit, bist du im Flow?
Lesen eines spannenden Fachbuches. Manchmal auch beim Singen. Warten. In einem Wartezimmer zum Beispiel. Ich genieße es mit meinem Thermosbecher da zu sitzen und zu wissen: es wird mich dann schon einer holen, wenn ich dran bin.
Reisen, vor allem wenn mein Mann am Steuer sitzt und ich aus dem Fenster schauen kann, oder in einem Zug.
Gibt es eine Frage, die Du gern mal gestellt haben möchtest? Wie ist Deine Antwort darauf?
Hmmm… viele Fragen! Ich finde sowieso, dass Fragen ganz großartige psychische Phänomene sind. Ich stelle dauernd Fragen. Bei manchen Fragen will ich die Antwort gar nicht so schnell wissen, denn das Suchen macht große Freude.
Was möchtest Du den Lesern meines Blogs mitgeben?
Nehmt eure Gefühle und Bedürfnisse ernst oder vor allem nehmt sie achtsam wahr – und natürlich auch die Gefühle und Bedürfnisse aller anderen Menschen, mit denen ihr zu tun habt.